Aus dieser gleichmäßigen Substitutionsrate leitet sich der Wunsch ab, bei phylogenetischen Analysen die Sequenzen als molekulare Uhren zu verwenden, um Aussagen über die Zeit zu machen, die zwischen den einzelnen Aufspaltungen vergangen ist.
Untersuchungen an Vertebraten
haben allerdings ergeben, daß sich die Substitutionsraten zwischen
den einzelnen Linien zum Teil stark unterscheiden.
Dieses Phänomen wird auf den Effekt zurückgeführt, den die unterschiedlichen
Generationszeiten mehrzelliger Organismen haben können.
Die für unsere Betrachungen wichtigen Mutationen finden in der Keimbahn
mehrzelliger Organismen statt, da nur diese weitervererbt werden können.
Haben nun zwei Organismen etwa dieselbe Anzahl an DNA-Replikationen
in der Keimbahn, so ist die mögliche Substitutionsrate pro Zeit
in dem Organismus höher, bei dem die Generationsdauer kleiner ist.
Das kommt daher, daß in demselben Zeitraum mehr Zellteilungen bzw.
DNA-Replikationen in der Keimbahn stattfinden und damit
mehr Mutationen entstehen können.
Eine zusätzliche Erklärung ist, daß die unterschiedlichen
Organismenlinien auch unterschiedlich gut funktionierende
Reparaturmechanismen besitzen und auch daher unterschiedlich
hohe Mutationsraten möglich sind.
(Futuyma, 1986; Kohne, 1970; Li and Graur, 1991)
Aus diesem Grund ist es nur schwer möglich, genauere Aussagen über die zeitlichen Abstände zu machen. Denn eine Umrechnung der Kantenlängen in Zeiteinheiten ohne genaue Kenntnis der Mutationsraten pro Generation ist nicht möglich.
Obwohl also keine globale molekulare Uhr herangezogen werden kann, kann es möglich sein, lokal, d.h. bei eng verwandten Organismen, anhand molekularer Uhren Zeitabstände zu schätzen. So wird z.B. die zeitliche Entwicklung der Affen und Menschen untersucht, die mit dem Wissen um den Zeitpunkt der Divergenz einer Außengruppe aus fossilen Daten geeicht wird. (Hasegawa et al., 1985; Li and Graur, 1991)
Weitere Probleme für die Benutzung molekularer Uhren liegen darin, daß es Reparationsmechanismen gibt, die bei weitem nicht verstanden sind. Dadurch kann man keine Aussagen über die zeitliche Verzerrung machen, die durch solche Mechanismen ausgelöst werden, wodurch eine Eichung der Zeitabstände sehr ungenau würde. Ein solches Problem tritt z.B. auf, wenn als Grundlage der phylogenetischen Untersuchungen Gensequenzen verwendet werden, die mit vielen Kopien im Genom (Multikopie-Gene) vorkommen. Bei diesen ist nicht bekannt, wie der Mechanismus funktioniert, mit dem die Zellen die einzelnen Sequenzen gegen den Mutationsdruck identisch halten. Es wurden zwar in der Vergangenheit mehrere Mechanismen vorgeschlagen, aber verstanden hat man diesen Vorgang nicht. (Lodish et al., 1995)
Aus den oben angeführten Gründen werden molekulare Uhren selten benutzt. Auch in dieser Arbeit werden wegen dieser Unsicherheiten und der Benutzung von ribosomaler RNA, einem Multikopie-Gen, keine Aussagen über die Zeiträume der Kanten versucht.